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Oktober 2006 - Hinter den Vorhang geschaut

Erneut wird der Computer eingeschaltet. Er soll Befehle verarbeiten, rechnen, speichern, drucken. Wir wollen von unserer Herbstfahrt im Oktober 2006 berichten, wollen Erlebtes, Gefühltes und Erfahrenes in mathematische Befehle und Signale verarbeiten, mit denen Leserinnen und Leser etwas anfangen können. Wird es gelingen? Sicher ist, es wird nie das Ziel erreichen und Reales lebendig beschreiben können. Trotzdem wagen wir es, denn wir wissen um die Vielen, die durch Spenden jeder Art die eigentlichen Akteure waren. Sie wollen wissen, wie es diesmal war. Wir versuchen zu antworten und stottern, suchen nach Worten.

Mannshohe Berge von Kartons, Taschen, Beuteln, Koffern und Tüten waren verstaut. Zwei größere Autos als bisher standen zur Verfügung und das Ladevolumen war voll ausgenutzt, ganz vorn die Bastelgrüße unserer Grundschulkinder für ihre Altersgenossen, ganz hinten unsere Taschen und Schlafsäcke. Dazwischen nicht aufzuzählende Teile an Winterkleidung, Lebensmittel, Schuhe, Medikamente, Fahr- und Dreiräder, gefüllte Schulranzen, Werkzeuge, Kinderwagen ..., wir brechen das Aufzählen ab. Das Oktoberblatt zeigt die zwölf und mahnt zur Abreise. In Jena holen wir die letzte Reisebegleitung ab und endlich vollständig, zu sechst, geht es mit jedem Meter dem Ziel entgegen. Zwölf Tage liegen vor uns, wir sind gespannt. Einige schlafen unterwegs, sie sind direkt vom Arbeitsplatz ins Auto umgestiegen. Mit der Nacht lassen wir Wien, Budapest und Szeged hinter uns und stehen wieder an der rumänischen Grenze.

Wohin wir wollen, werden wir gefragt. Freunde besuchen und Urlaub machen, diese Vokabeln wurden eintrainiert. Der Blick der Beamten in die bis zur Decke gefüllten Autos mit Gepäck für sechs Personen und Geschenken für die Freunde lassen bei ihnen Zweifel aufkommen. Wir diskutieren, messen Kräfte, beten und weigern uns, auszuräumen und Listen über Hilfsgüter zu schreiben. Wir wissen, was passieren würde. Nach zwanzig Minuten dürfen wir fahren. Erleichtert geht es weiter Richtung Temeswar. Noch vor dem ersten Ort nach der Grenze folgt eine weitere Kontrolle, erkennbar am Auto und am gestreckten Daumen des Uniformierten. Das Gleiche wiederholt sich: Wohin, wieso so viel Gepäck? „Listen schreiben oder umkehren!“ heißt es wieder. Die Reaktion unsererseits: reden, argumentieren, diskutieren, beten und sich dumm stellen. Wieder nach zwanzig Minuten gibt der Beamte auf und rennt nur noch abwinkend die Straße auf und ab. Dann lässt er uns durch. Alle Schwere sitzt noch in den Knien und nach einer Stunde erreichen wir das Pfarrhaus in Temeswar. Es ist Freitagmorgen und das Verkehrschaos perfekt.

Auf die Reservierung unserer Parkplätze sind wir sehr gespannt. Nach den letzten engen Kurven entdecken wir sie: Pfarrer Kovacs hat mit zwei Bänken des Gemeinderaumes einige Meter Straße blockiert und liest, darauf sitzend, seit fast zwei Stunden die gleiche, dünne Zeitung. Ob die Kirche jetzt streikt, war nur eine von vielen Fragen der Passanten. Aber nur so hat es funktioniert und wir freuen uns über das Wiedersehen. Natürlich erzählen wir von der Reise und von der Grenze, er fasst sich nur an den Kopf. Der Freitag lädt dann ein, noch einen Besuch in der Stadt zu machen. Nicht nur für den Erstreisenden wird es zum Abenteuerspaziergang. Gemeinsam versuchen wir, uns durch die Autoschlangen zu drängen. Straßenbaumaßnahmen legen den Verkehr fast lahm, seit zwei Jahren. Im Zentrum, vor dem großen Kaufhaus, stolpern wir noch durch die Baulöcher zwischen neu verlegten Straßenbahnschienen und Baumaterialien, ebenso wie alle anderen. Glück hat, wer noch gut zu Fuß ist. Einige Arbeiter schaufeln Beton zwischen die Schienen, gut für den, der es bemerkt und daneben festen Boden findet. Wie es die Damen in hochhackigen Schuhen meistern, ist bewundernswert.

Am Abend steht nach dem Auspacken der Autos der erste Besuch an. Eines unserer Autos ist an anderer Stelle unterzustellen, es passt nicht in die Einfahrt. Im eingemeindeten Dorf Ciarda findet das Fahrzeug seinen Platz und wir die Familie Csiki. Wir müssen sie wirklich suchen, denn es ist fast dunkel und sie haben seit Jahren keinen Strom. Loser Maschendraht grenzt das Grundstück ab und wir entdecken sie hinter laubenähnlichen Bretterverschlägen beim Hühnerfüttern. Es ist nicht der Stall, sondern das Sommerzimmer auf dem Hof, an einigen Möbeln vom Sperrmüll zu erkennen. Ein wenig dauert es, bis die Frau weiß, wer wir sind und dass wir uns für sie interessieren. Sie gehören der reformierten Gemeinde an, deren Pastorin Frau Kovacs ist. Sie hat uns von ihnen erzählt. Frau Csiki läutet die Kirchenglocke und er hebt, wenn nötig, die Gräber aus. Sonst versucht er mit „munca de zi“, also als Tagelöhner, auf den Feldern der Umgebung an Nahrung oder Geld zu kommen. Wir gehen ins Haus und die Frau probiert mühsam eine krumm gebogene Kerze, wahrscheinlich aus der Kathedrale stammend, zu entzünden. Viel heller wird es nicht. In der mit Wachsresten gefüllten Tasse bringt sie sie dann zum Stehen. Wir erfahren von ihren vier Operationen der letzten Jahre, die das ganze Geld aufgefressen haben. Deshalb ist der Strom abgeklemmt. Für etliche Jahre sind die Grundsteuern nachzuzahlen. Die Angst, täglich aus dieser alten Hütte rausgeworfen zu werden, schwebt zum Greifen nah über uns. Vielleicht finden sie dann noch ein Stück Plastikplane zum Zudecken, vielleicht einen Platz am Rand des mühsam bebauten Gartens, vielleicht. Zwischendurch kommt auch Ana-Maria herein. Sie freut sich über den Besuch und mit ihren drei Jahren ist sie alles andere als zurückgeblieben. Sie ist das Enkelkind, ihre Mutter ist die einzige Tochter des Ehepaars, sie ist geistig behindert. Ana-Maria sollte nach dem Willen der Ärzte abgetrieben werden. Die Großeltern haben es verhindert, jetzt freut sie sich jeden Tag neu auf den Kindergarten und die vielen Spielzeuge dort, so erzählt sie. In den Augen der erst fünfundvierzigjährigen Großmutter steht alles geschrieben, was sie bewegt. Sie erzählt und antwortet auf unsere Fragen. Es sind keine zweihundert Euro, die sie benötigen würde, um Ruhe zu haben und eine Perspektive, hier am Rand der rumänischen Metropole. Sie bittet um nichts. Wir versprechen, morgen noch einmal zu kommen und verabschieden uns, denn Frau Kovacs wartet mit dem Abendessen. Unterwegs gehen junge Leute zur Disko oder genießen den warmen Abend vor dem freien Wochenende. Die Stadt ist lebendig. Der Blick hinter diese Kulisse war selten so deutlich und schnell passiert wie dieses Mal.

Der Morgen beginnt wieder mit Besuchen. Bei Herrn Burckhardt hören wir, wie es ihm seit dem Tod seiner Frau vor einigen Monaten geht. Er hat sich stabilisiert, Freunde und die Kirchgemeinde helfen und er erzählt aus seiner Vergangenheit.

Im gleichen Stadtviertel ist ein Paket aus der Heimat abzuliefern und Grüße zu überbringen und weiter geht es, dachten wir jedenfalls. Aber das Auto streikt. Nur der Anlasser dreht sich, weiter nichts. Es ist Samstagmittag, alle Werkstätten sind geschlossen und nach unserem Verständnis benötigen wir ein Diagnosegerät in einer guten Fachwerkstatt. Nach einigen Telefonaten stehen fünf Monteure vor uns mit einem Beutel voll Schraubenziehern, Schlüsseln und selbst gebastelten Prüflampen. Sie beginnen mit der Fehlersuche. Alles wird probiert, ohne Ergebnis. Nur nicht verzweifeln ist die Devise. Dann läuft plötzlich das Auto, einer hat den Dieselfilter umgedreht. Schnell ist er ausgewaschen und gereinigt und alle freuen sich, dass nach drei Stunden bangen Hoffens alles wieder gut ist und die Fahrt weiter geht.

Noch einmal besuchen wir Familie Csiki vom Vorabend und versprechen zu helfen. Die Herzmedikamente für ihn waren verbraucht, wir bringen Nachschub. Ana-Maria bekommt einen Ball und etwas Spielzeug, überglücklich schwirrt sie damit los. Die Frau freut sich über einige Lebensmittel und Süßigkeiten. Geschenke für Freunde haben wir es an der Grenze genannt, was sonst?! Was sind zwanzig Minuten Angst bei solchen Kinderaugen?

Von Herrn Schelken wissen wir, dass er seit dem Tod seiner Frau sehr allein ist und der Besuch dort wird nicht leicht. Das weiß jeder, der ihn kennt. Er entschuldigt sich auch gleich, denn er hat etwas Wein getrunken und die fast volle Colaflasche steht vor ihm. Seit vierzig Jahren war er mit seiner Frau zusammen und alles haben sie miteinander beredet. Schwer war die Zeit seit seiner Beinamputation und dann kam ihre Krebsdiagnose und die Zeit danach. Noch am letzten Abend habe sie ihn gefragt, ob er sie liebe. Immer und immer wieder erzählt er es, verzweifelt über den Tod und geplagt vom Schmerz im noch verbliebenen rechten Bein und dem des Alleinseins. Er versucht den Schmerz durch Tritte auf den Fußboden zu mindern, während der Stumpf des linken Oberschenkels zuckt. Schmerz und Verzweiflung, die Worte brechen sich Bahn und suchen Luft, wir hören nur zu, zwanzig Minuten. Dankbar ist er auch, über die täglichen Mahlzeiten, finanziert und organisiert durch die Kirchgemeinde und die von uns morgen wieder zu füllende Sozialkasse. Er bedankt sich für den Besuch, sich nochmals entschuldigend wegen des Weins, denn noch nie hat er getrunken.

Am Abend versuchen wir das alles bei einem Panflötenkonzert in der Kirche zu verarbeiten. Die Musik malt die Landschaft Rumäniens vor unser inneres Auge. Wunderschön ist beides, die Musik und das Land, vor unseren Augen und in sich mehrenden Fernsehberichten anlässlich des nahe stehenden Beitrittstermins des Landes in die EU. Aber die Wirklichkeit des kleinen Mannes sieht eben oft anders aus als die Politik auf der großen Bühne. Der Gottesdienst am nächsten Morgen macht klar, wo unsere Aufgaben liegen. Nach dem anschließenden Gespräch bei Kaffee und Kuchen übergeben wir der Gemeinde das Geld für die Sozialkasse und den Lohn für die Sekretärin. Was damit geschieht, davon haben wir einiges gesehen.

Nach einer kurzen Mahlzeit brechen wir auf und stehen drei Stunden später bei unseren Freunden in Racastia. Das leer stehende Kombinat in Hunedoara weicht langsam großen Firmen aus dem Ausland, zumindest am Rand der Stadt. Die Freude am Wiedersehen lässt die Notwendigkeit des Besuchs erst einmal in den Hintergrund treten. Das üppige Essen ist vorbereitet und wir stärken uns, bevor das Ausladen wieder von neuem beginnt. Die große Freude ist, dass alle gesund sind. Trotzdem sind noch Arztrechnungen und anderes offen. Iulian, der Kleinste bei Filips, braucht dringend eine spezielle Medikamentenkur, die noch am letzten Tag vor der Abreise durch engagierte Hilfe rechtzeitig ankam. Ebenso wie die vielen Medikamente für die Arztstube in Temeswar, wird auch bei Familie Filip einiges für den Winter benötigt. Es ist für die Familien unmöglich, dafür Geld aufzubringen. Das Kindergeld, knapp sieben Euro, reicht nicht für eine Monatskarte zur Schule und die Inflationsrate steigt unaufhörlich. Das sind nicht nur Statistiken, sondern bittere Realität, insbesondere hier, wo sich Jugendliche und Erwachsene seit Jahren vergeblich um Arbeit bemühen. Wir wissen darum, dass staatliche Hilfen in Deutschland oft nicht weit reichen, aber bei vielen Familien in Rumänien sind gar keine Gelder auszuzahlen und der Tanz auf dem Seil endet oft mit Absturz in Kriminalität oder einfach ins Bodenlose. Wir versuchen die Netze zu spannen, die auffangen und tragen. Jeder der mithilft, spannt sehr konkret mit.

Am Morgen steht der Besuch in der Schule und dem Kindergarten an. Sie freuen sich, die Kinder und die Lehrer, auch wenn sie weniger geworden sind. Wir reden mit ihnen und sie verstehen das Bild vom Salz in der Suppe. Wenig reicht oft, aber es muss gut sein und es ist wichtig. Ohne Gewürz schmeckt das Essen fade, das brauchen wir nicht erklären. Wir sagen ihnen, dass jeder ein solches Salzkörnchen sein kann und sein sollte. Nur so wird vieles leichter und besser für alle. Sie freuen sich über die Grüße und die Beutel mit den Süßigkeiten, den Würsten und die Spielzeuge. Einiges davon bleibt, wie auch das Schul- und Bastelmaterial, im Kindergarten und in der Schule. Die Taschen, Hefte und Stifte, die sie vom Unterricht einpacken, kommen uns bekannt vor. Wir verabschieden uns und besuchen Familie Karacsoni am Rand des Dorfes.

Das Häuschen hat sich vergrößert und die Familie auch. Der Kleine sieht stabil aus, das Haus weniger. Aber der Kleine bekommt jetzt einen Kinderwagen, die Familie Lebensmittel und Kleidung, die anderen vier Kinder Spielzeuge und für das Haus wird gerechnet, was nötig ist bis zum Winter. Das Geld wird passend gemacht und so wird das Dach und das Fundament bis zum Winter stabilisiert, um auch die Schneelasten zu tragen. Wer an die Situation von vor zwei Jahren zurückdenkt, der weiß, dass sie sich nur noch mit einem Finger an das „Seil“ geklammert hatten. Es war die Erbärmlichkeit pur in der alten Bretterbude am Rand des Dorfes, ungesehen von den meisten. Hier verändern sich nicht nur die Wohn- und Lebensverhältnisse, sondern die Menschen. Das macht uns Mut und gibt Kraft. Es war und ist nicht umsonst, was wir tun, bei den Karacsonis und an vielen anderen Stellen.

Nach dem Einkauf auf dem Markt besuchen wir Familie Varga. Alexandru, der Filip-Vater, hat uns von ihnen erzählt. Wir fahren einen bisher nie beachteten schmalen Sandweg oberhalb der großen Hunyadenburg nach oben und stehen auf dem Gelände eines ehemaligen Schießplatzes. Freistehend, in der ehemaligen Munitionsausgabestelle, „wohnt“ die Familie mit sechs Kindern. Das fehlende Dach ersetzen alte Folieplanen. Als erstes fragen wir uns, wie das im Winter geht. Heute ist es warm und trotzdem pfeift schon der Wind. Freundlich werden wir hereingebeten, für alle ist das Zimmer zu klein. Wir kennen die größeren Mädchen und die Mutter von den Schulbesuchen in Racastia aus vergangenen Jahren. Jetzt gehen noch drei Kinder dorthin, das heißt, sie wollen gehen. Der Vater ist auf Arbeit, wieder „munca de zi“, Tagelöhner. Die Eltern können den Bus nicht mehr bezahlen und die vier Kilometer sind für die Kleinen im Winter nicht zu Fuß zu bewältigen. Wir werden helfen und fragen beschämt nach anderen Notwendigkeiten. Sonst haben sie alles, sagen sie, dankbar für Kleidung aus der Kirche in der Stadt und die Möglichkeit, an diesem Platz wohnen zu können. Noch einige Fotos machen, schlucken, „Auf Wiedersehen“ sagen und von Herzen auch meinen. Wir fahren weiter, am nächsten Morgen nach Balanu.

Ein Kurzbesuch führt uns nach Calan zu einer Familie mit neun Kindern. Die Eltern werden zu Weihnachten für sie Süßigkeiten haben, solches und anderes stammt auch von einer Familie aus der Heimat. Die Autos scheinen nicht viel leerer, wir erinnern uns daran, dass wir bisher ohne Zwischenfälle fahren konnten, ohne Diagnosegerät am Samstagnachmittag. Noch wissen wir nicht, ob beide Autos in den schmal gewordenen Hof von Cristina in Balanu hineinpassen. Die Kinder flitzen umher, als sie uns entdecken. Der Weg fordert die ganze Aufmerksamkeit. Nachdem der letzte Sandhaufen eingeebnet ist, sind die Autos besser verstaut als erwartet.

Eigentlich sollte Cristina mit ihrem Sohn schon lange im Spital der siebzig Kilometer entfernten Stadt Petrosani zur Untersuchung sein, aber zwei Autos waren auf der Strecke schon liegen geblieben. Wir werden herzlich willkommen geheißen, hier, wo wir auch schon lange zu Hause sind. Nach zwei Stunden atmen wir mit den Autos auf, alles ist entladen und in der kleinen Kirche kommt man nur mühsam von Stapel zu Stapel. Winterkleidung ist sperrig aber dringend nötig, Schuhe, Lebensmittel, Erkältungsmedizin, also wieder das volle Programm.

Sofort fahren wir mit Cristina los, denn der Arzttermin mit dem Sohn ist für siebzehn Uhr angesetzt. Die herrliche Landschaft ist auch für uns neu. Wir verstehen, warum die Autos streikten und konzentrieren uns auf die Straßen. Nach einem Autounfall des Elfjährigen sind im Kopf Dinge entdeckt worden, die jetzt in einer neuen Privatklinik eingehend zu untersuchen sind. Vorher muss gezahlt werden. Fünfzig Euro waren veranschlagt, die Schwester verlangt das Vierfache. Unmöglich, Cristina sucht den Arzt und wir warten vor seinem Zimmer im städtischen Krankenhaus gegenüber. Die ehemals gepolsterten Sessel haben schon vieles gesehen, die Polster existieren schon lange nicht mehr und wir warten, auf den Resten von Hartfaserplatten sitzend. Der unvermeidliche Gang zur Toilette muss doch vermieden werden, denn Papier fehlt ebenso wie der Deckenputz und ein funktionierendes Waschbecken. Endlich kommt der Arzt. Cristina hat ihn zu Hause angerufen und er stellt einen Schein aus, der die Zahlung von fünfzig Euro festlegt. Jetzt beginnen die Untersuchungen. Für uns sind die Resultate wichtig, denn keiner weiß, was ist und was wird. Nach drei Stunden können wir gehen, die Resultate sind ebenso wenig wie ein Arzt vorhanden, wir müssen morgen noch einmal kommen. Die Rückfahrt im Dunkeln ist nervig, wir stellen uns das in einem alten Dacia lieber nicht vor. Vieles erzählt uns Cristina von den Kindern, dem Dorf und dem, was sie dort tun. Wir haben gesehen, dass das Erdgeschoss des neuen Gemeinschaftshauses fertig gebaut war. Uns ist ein wenig klar, was das bedeutet.

Am nächsten Morgen ist der Besuch in der Schule und dem Kindergarten geplant. Alles, was nötig ist, wurde vorsortiert und dann helfen viele, die Dinge durch das Dorf hinauf zur Schule zu tragen. Kinder gesellen sich zu uns und kommen mit, sie sind erkältet und deshalb nicht im Kindergarten. Vor dem Gebäude sind einige Männer damit beschäftigt, riesige Holzkloben ofengerecht zu zerkleinern, Frauen tragen sie hinauf. Wir unterhalten uns nur kurz, denn die Kinder warten. Wir kennen sie alle und sie erzählen, was sie gelernt haben. Nebenan im Kindergarten hören wir kleine Geschichten und freuen uns, alle Spielzeuge wieder erkannt zu haben. Klar ist, dass wir die Kinder in den nächsten Tagen öfter treffen werden, wir freuen uns mit ihnen darauf. Süßigkeiten für die Weihnachtszeit, neue Spiele, Bastel- und Schulmaterial lassen wir bei der Kindergärtnerin und dem Lehrer. Es muss für sechs Monate reichen.

Im Dorf entdecken wir zwei neue Wellpappdächer, sonst hat sich, abgesehen vom Bau „unseres“ Hauses, nicht viel getan, woher auch. Kaum jemand hat Arbeit, einige sind noch im Ausland, manche schon sehr lange. Kommen sie wieder? Aber auf uns kommen sie zu, die Kinder und die Eltern. Das hat sich verändert. Wir reden mit ihnen, über die Kinder, die Krankheiten, das Wetter und sonstiges. Der Winter wird kommen, das wissen sie. Dann hört der Spaß auf, hier in Balanu, im Gebirge, zwischen den Holzbuden mit den kaputten Türen und nicht schließenden Fenstern, wo die Wäsche am Fluss gewaschen wird und mit den Wölfen um das Dorf und auf dem Schulweg, den die Kinder sechs Kilometer in den nächsten Ort zu Fuß zurücklegen. Aber heute scheint die Sonne und es ist warm. Eine Frau geht mit der Schüssel voll Wäsche runter, ein anderer kommt mit einem Bündel Feuerholz hoch. Die Jüngeren unserer Gruppe formieren die Fußballmannschaften und wir fahren wieder nach Petrosani, um die Ergebnisse zu holen.

Und mehr war es dann auch nicht. Kein Arzt war zu sehen oder zu sprechen, vielleicht, weil wir nicht zahlen wollen. Von einem großen Tumor war schon einmal die Rede, wir lesen von drei verschiedenen Problemen. Wir können zwar lesen, aber der Schweregrad der Probleme ist nicht einzuschätzen. Für die Mutter ist erst einmal eine Pause notwendig, bis wir wieder zurückfahren können. Erst nach und nach finden wir Worte, glauben und vergewissern uns der Tatsache, dass das Leben ihres Sohnes ebenso wie unseres, nicht in unserer Hand liegt. Es ist kein „Wird schon werden!“, sondern das Wissen und Glauben an die Größe Gottes, alles andere ist Augenwischerei, das ist uns klar.

Zu Hause angekommen, bereiten wir die Arbeit für den nächsten Tag vor. Im fertig gestellten Erdgeschoss des Neubaus soll die Elektroanlage installiert werden. Das Material, bis hin zum Zählerschrank, haben wir als Spenden erhalten. Unbezahlbar wäre es, müsste es hier im Land gekauft werden. Wir besprechen die Pläne für die Einrichtung von Sozialküche, Speiseraum, Arzt- und Gastzimmer, Bädern und WC. Für die Dorfbewohner werden diese Räume entstehen, wir zeichnen noch im Licht der Taschenlampen alles an.

Trotz Kälte und gefrorener Autoscheiben am Morgen verspricht der Tag sonnig zu werden. Donnerstag haben wir, zeigt uns der Kalender, die Zeiten sind für uns verschoben. Die Kabel biegen sich so mühsam wie die Finger, erst nach elf Uhr erreicht die Sonne das tief eingeschnittene Tal. Aber langsam wird es besser. Eine Dunstabzughaube, ebenfalls als Spende geliefert, wird in der kleinen Küche angebaut, damit die Tür im Winter nicht wieder zufriert und die Eiszapfen an der Decke hängen, wenn Samstags für alle Kinder des Ortes, ihre Eltern und die Kranken gekocht wird. Die Küche ist voll mit Lebensmitteln und Konserven. Es freut uns alle, ein Stück wird es reichen. Für den Rest des Winters lassen wir Geld zum Kauf von Lebensmitteln da. In einigen anderen Häusern wird die Elektroanlage neu gebaut oder wenigstens krisensicher gemacht. Drei kleine Kinder erhalten ein Kinderbett, wahrscheinlich die einzigen im Ort. Bis hin zur Bettwäsche war alles vorbereitet und auch die Puppen fehlen nicht. Niemals hätten die Eltern das Geld dafür aufbringen können. Pflegemittel, Hygiene- und Inkontinenzartikel, Spielzeuge und Süßigkeiten für Weihnachten werden endgültig sortiert. Cristina und ihre Familie wird es dann verteilen und es wird für das ganze Dorf reichen. Bis zum Abend ist auch im Haus das Gröbste geschafft und dann wartet der Bürgermeister auf uns, natürlich bei sich zu Hause, denn da stört niemand.

Das Wichtigste ist jetzt der Schulbus für die Kinder, denn die Wölfe waren schon unten am Fluss. Mit dem Fahrrad ist der Weg bei Schnee nicht zu absolvieren. Gibt es keinen Schulbus, bleiben die Kinder zu Hause, wir werden deutlich. Als wir vom Unfall mit Cristinas Sohn erzählen, ist er betroffen. Es passierte im Frühjahr mit dem Fahrrad auf dem Schulweg. Er sucht nach Wegen und verspricht, sich zu kümmern. Er sieht, dass uns das Dorf und seine Bewohner nicht egal sind und es scheint langsam zu wirken. Aber es ist wie überall, Diplomatie und Politik brauchen ihre Zeit, nur für Balanu-Verhältnisse ist schon zuviel Zeit verstrichen und die Menschen brauchen schnellstens Resultate in Form von Wasserleitung, Telefon und einer festen Straße. Das ist sein Job, an anderen Stellen erkennen wir unsere Aufgaben und auch darüber reden wir. Das für eine Werkstatt geplante Haus vor dem Dorf geben wir auf. Zweifelhafte Bewohner hat der Bürgermeister direkt daneben bauen lassen. Sie wohnen dann nicht mehr in seinem Ort, aber als Sicherheitsdienst für unser geplantes Vorhaben scheinen sie als Nachbarn ungeeignet. Schade.

Lange sitzen die einen in der Nacht beim Memory und Mensch-ärgere-dich-nicht, während die anderen die halbe Nacht hindurch erzählen und reden. Die Verständigung klappt und öffnet den Blick in die andere Welt hinter den Kulissen eines „aufstrebenden Wirtschaftsraumes“. Wir befinden uns nur einige Autostunden von zu Hause entfernt an einem Platz, wo sich Kinder zu Weihnachten über Zahnpasta, Buntstifte und eine Tafel Schokolade wochenlang freuen können. Aber sie brauchen mehr als Schokolade und getragene Kleidung. Sie brauchen Hoffnung, die auf Zukunft angelegt ist, Hände, die sie halten, trösten, begleiten und (noch) stützen. Deshalb sind wir hier, spielen mit ihnen, teilen Essen aus und arbeiten.

Und genau damit beginnen wir wieder den nächsten Morgen. Während des Frühstücks hören wir draußen Stimmen. Ein Kleinbus zieht einen Pferdewagen aus dem Dorf. Der Wagen ist grün ausgeschmückt und ein Sarg steht darauf. Einige Leute laufen hinterher. Wir sehen auch Paula, Larisa, Catalin und ihre drei anderen Geschwister dabei. Noch im Frühjahr hat uns ihre Großmutter einen von vierzig Körben geflochten und damit an der Straße auf uns gewartet. Sie war vor drei Tagen gestorben, jetzt ist die Beerdigung im Nachbarort. Den Sarg hat die Dorfgemeinschaft durch eine Sammlung bezahlt.

Wir beginnen im Neubau unsere Arbeit, während die Kartoffelsalat-Brigade nach Hateg zum Markt fährt, um einzukaufen. Gegen zwei Uhr sind wir mit der Arbeit und die Frauen mit den Hühnerbeinen zum Essen fertig. Margareta, Cristinas Schwester, hat im Zimmer eine neue Elektroleitung und eine Lampe bekommen. Die alten, blanken Drähte werden noch von den Nägeln gewickelt und alles aufgeräumt.

Dann probieren wir, wie viele Kinder und Erwachsenen in unseren Kleinbus passen. Bei siebzehn machen wir die Tür zu und fahren in das vom Bürgermeister hoch gelobte neue Skigebiet auf der anderen Seite des Berges. Nach reichlich schlechten Waldwegen erkennen wir an neu gebauten Häusern, wer hier „investiert“. Die Oberschicht gönnt sich diese Objekte und die privat finanzierte Asphaltstraße dorthin, ohne viel dafür bezahlt zu haben. Auf der anderen Seite des Berges beginnt in wenigen Wochen der Kampf um jede Mahlzeit. Diese Gegensätze kennzeichnen das Land in zunehmendem Maße. Zurück geht die Fahrt. Es ist noch hell und die Zeit reicht für einen kurzen Abstecher zur Staumauer, zwanzig Kilometer von Balanu entfernt, weiter oben im Gebirge. Die meisten der Kinder waren noch nicht hier oben. Auch für uns ist es immer wieder ein atemberaubender Anblick. Dass es nach der nun schnell einbrechenden Dunkelheit bald wieder hell wird, hoffen wir nicht nur für uns, sondern besonders auch für das Leben unserer Freunde.

Vieles erfahren wir noch im Gespräch bis weit in die Nacht. Wir hören von bärischen Überraschungen beim Pflücken der Waldfrüchte, die verkauft werden, von dem großen Dorffest anlässlich des ersten Tauftages nach vierzehn Jahren, von fehlender Verantwortung junger Eltern und vieles mehr. Wir besprechen und planen für das Frühjahr ein Seminar durch Sozialarbeiter aus dem Land und hoffen auf Erfolg und Einsicht. Schritt für Schritt müssen wir gehen, damit wir den Blick für die Realitäten nicht verlieren. Nur beim genauen Hinsehen und einfühlsamen Nachfragen, durch das Hören und Miteinanderreden tun sich solche Schritte auf, die keinen übergehen oder zertreten.

Der Freitag gehört den Kindern. Schon früh stehen einige parat zum Waschen und Schneiden der Kartoffelsalat-Zutaten. Nur die Qualität des Flaschengases zerrt an den Nerven, denn die Kartoffeln kochen nach zwei Stunden immer noch nicht. Gut, dass es Holz und einen Ofen gibt. Aus fünf Schüsseln wird dann alles zusammengemixt, während sich ein Teil unser Küchenhelfer schon mit dem Backen von hundertzwanzig Waffeln beschäftigt. Der Kindergottesdienst beginnt und wer die Lieder noch nicht kennt, lernt sie einfach mit. Vom Salz in der Suppe reden wir wieder mit den Kindern und den Müttern, denn sie können mitreden, auch wenn noch niemand im Dorf einen solch großen Topf wie den unseren, voll mit Suppe gekocht hat. Cristinas Vater, der Prediger der Gemeinde, bedankt sich für alle Hilfe und sucht nach Worten. Wer es von uns versteht, ist beschämt und doch irgendwie froh, dass mehr als ein Strohfeuer entstanden ist. Im Hof sind die Tische vorbereitet, die hundert Wiener sind auch warm und wir essen, dieses Mal aber in größerer Runde. Für den Abend laden wir die Kinder oberhalb der Schule zum Feuer ein.

Schnell haben sie Holz besorgt und beginnen zu singen. Wir verteilen Kerzen und entzünden einige. Die Größeren geben das Licht weiter an die Kleineren und an die Erwachsenen. Wir wollen, dass es hell wird in Balanu und dabei muss jeder helfen. Es macht Spaß, auch wenn die eine oder andere Kerze zwischendurch vom Wind ausgeblasen wird. Viele sind rundherum und helfen beim Anzünden. So bringen wir unsere Lichter in das Dorf. Sie verstehen, was gemeint ist, was damit gesagt wird. Es ist ein schmaler Weg hinunter zum Dorf, steinig ist er in Balanu. Jeder stolpert auf dem Weg, keiner will fallen und wir erreichen das Ziel. In der Kirche haben wir Licht und gehen hinein. Die Wärme tut gut. Wir verteilen die Waffeln und bei manchem verschwinden einige unter der Jacke. Die Geschwister zu Hause sollen auch etwas davon bekommen. Es ist der letzte Abend und wir verabschieden uns. Sie wissen, wir kommen wieder. Wir hoffen es. Geld für weiteres Baumaterial und Andreis Försterausbildung vertrauen wir Cristina an.

Am nächsten Morgen brechen wir nach dem Frühstück auf. Cristinas Mann Angelut fährt mit uns. Noch immer wissen wir nicht, was die Ergebnisse der Untersuchungen des Sohnes besagen und wir hoffen, in Temeswar näheres zu erfahren. Die Tage miteinander haben zusammengeschweißt. Ein Stück von jedem von uns bleibt hier. Für große Worte ist kein Platz, Abschiednehmen macht keinen Spaß. Hoffnung bleibt und das Wissen des Getragenseins im gemeinsamen Glauben. Nur so öffnet sich der Blick über den Horizont des eigenen Lebens hinaus.

In Temeswar warten die gebratenen Hühner zum letzten Abendessen auf uns. Wir versuchen zu erzählen und stehen schon wieder in einer anderen Welt. Mit einer Sozialarbeiterin werden die Seminarpläne für das Frühjahr besprochen, ein Psychologe soll sie begleiten, meint sie und ist einverstanden, die Sache mit uns zu probieren. Die Themen sind klar: Verantwortlichkeit der Eltern, Hygiene, Sexualaufklärung, Aidsvorsorge, Erziehung. Es ist ein Jahresprogramm, aber ohne den ersten Schritt zu wagen, hat noch kein Mensch laufen gelernt. Wir müssen beginnen und wir wollen es.

Der nächste Tag, der 23. Oktober, ist der Tag der Abreise. Er beginnt in aller Frühe mit der Suche nach kompetentem Medizinpersonal. Eine Professorin schickt uns aufgrund besserer Ausstattung zur Kollegin in ein anderes Krankenhaus. Zwischendurch frühstücken wir und warten wieder. Nach fünf Stunden haben wir zwei unabhängige Ergebnisse mit gleichem Resultat. Der Sohn von Cristina und Angelut ist gesund und eine Kopfoperation nicht erforderlich. Fast hörbar fallen die Steine von uns und die Sorgen eines halben Jahres gehen über in Dankbarkeit. Schon ruft auch Cristina an und erfährt das Ergebnis. Der Abschied fällt jetzt leichter. Mit selbst gekochter Marmelade, Zacusca und Pflaumenschnaps werden wir zum Auto begleitet, sagen auf Wiedersehen und fahren zurück.

Fast zwei Wochen waren wir im Land, das Erlebte bewegt uns und die Fülle der Eindrücke muss erst nach und nach verarbeitet werden. Wir lernen, hinter die Fassaden unseres Lebens zu sehen und entdecken Gleichheit in aller Unterschiedlichkeit ebenso wie Unterschiede in Gemeinsamkeiten. Wichtig ist, dass Leben lebenswert sein muss und kein Vegetieren sein darf. Das können wir nicht für alle erreichen, aber sollen wir deshalb resignieren? Wir haben erlebt, dass sich Dinge zum Guten wenden, dass Menschen aufsehen und sich der Mief von Trostlosigkeit in Frischluft, gefüllt mit Hoffnung wandelt, zumindest für einige Menschen in Temeswar, Hunedoara, Racastia und Balanu. Sie wissen, dass sie es nicht allein geschafft hätten, weil die Möglichkeiten fehlen. Wir haben Möglichkeiten, sie zu nutzen unterliegt der Entscheidung jedes Einzelnen.

Das Autohaus Russ und Janot aus Erfurt hat sich dafür entschieden, den zweiten und größeren Bus für diese Fahrt kostenfrei zur Verfügung zu stellen - eine wesentliche Vorraussetzung einer solchen Fahrt. Viele Helferinnen und Helfer haben sich dafür entschieden, einen Beitrag zu leisten. Den Umfang des Beitrags soll das gute Gewissen jedes Einzelnen bestimmen. Beide Autos waren voll und nichts war umsonst. Mit den Grüßen und dem Dank unserer Freunde überbringen wir Ihnen allen auch unseren persönlichen Dank. Er geht in die Region des Thüringer Waldes, nach Brandenburg, nach Baden-Württemberg, und natürlich auch in unsere Umgebung zwischen Ilmenau, Arnstadt, Gotha und Erfurt bis nach Weimar und Apolda. Dass sich Hände zum Helfen verbinden macht uns Mut zur nächsten Frühjahrsfahrt. Für alle Helfer und alle Hilfe erbitten wir Gottes Segen.

 

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